„Ride it“ – eine Schnipseljagd


Klangzitate und Verwandlungen

Bleiben wir im Jahr 2019. „Seventeen“ – das magische Alter im Rückblick eines 34-Jährigen auf die Zeit während Coldplays Erfolg „The Scientist“ in 2002 besingt Kelvin Jones mit dem Duo YouNotUs, wörtlich IhrNichtWir. Mich wunderte, dass der Name oft eher als Yuno-tas betont wird. Die Single erschien am 27.9.2019. Da ist man so frei und hat doch „Große Hoffnungen / High Hopes“, wie Panic! at the Disco es genau ein halbes Jahr vorher veröffentlichten am 27.4.2019.

Auch Eltern hoffen und wünschen sich viel – oft genug, dass man das Altbewährte macht. Aber muss man nach über einem Jahr wirklich Stil und Bläsersektion von Matt Simons’ „We can do better“ wiederholen, bereits veröffentlicht am 4.4.2018 (Englisch). Zugegeben, letzteres ist musikalisch und textlich etwas monoton geraten, dafür motivierender als der unausgesprochene Druck in „High hopes“. „Seventeen“ ist dagegen nach meiner bescheidenen Auffassung nichts als der Versuch, populär klingendes Füllmaterial für den deutschen Markt zu produzieren. Der Groove von YouNotUs ist gelungen, aber so richtig überzeugen kann der Song nicht.

Wenn nicht viel Anderes angeboten wird, ist es ein Kinderspiel, künstlich Nachfrage für so ein Angebot zu erzeugen oder mich mit diesem Ohrwurm sogar gelegentlich zu infizieren, bis ich endlich richtig zuhöre. Deutsche Musikindustrie braucht glaube ich mehr Mut, wenn das Ergebnis eher intuitiv von Herzen als aus der Popsong-Schmiede und der Marktforschung kommt. Jedenfalls kann Deutschland Mainstream in 2019 und 2020 wohl nicht so elegant von der Stange produzieren wie in alten Disco- und Schlagertagen, geschweige denn mithalten mit Massenproduzenten wie Motown oder sogar Mainstream aus dem Brill Building. Man darf den Produktionen dieser Beispiele mindestens lassen, dass sie in den ungekürzten Fassungen weitaus lebendiger und einzigartiger waren, obwohl es schnell gehen und mit wenig Aufwand viel Gewinn bringen sollte.

8. YouNotUs feat. Kelvin Jones: Seventeen (Single 27.9.2019)

9. Panic! at the Disco: High hopes (Album: Pray for the wicked, 27.4.2019)

10. Matt Simons: We can do better (Album: After the Landslide, 4.4.2018)

Musikalischer Uran?

Ähnlich wie Schlagzeuge waren Chor-Sounds nicht das einfachste für elektronische Musikinstrumente in den 1970er Jahren. Etwa ein Preset eines Moog Keyboards mit dem Namen „Vox Humana“ klang bei Gary Numan noch 1979 bestenfalls nach einem Streicherensemble mit starkem Vibrato, aber nicht nach einer „menschlichen Stimme“ – vielleicht angelehnt an das gleichnamige Register einer Kirchenorgel? Doch schon etwas früher, 1975 konnte man in Kraftwerks „Uran“ einen chor-ähnlichen elektronisch erzeugten Klang hören. Man muss übrigens kein großer Fan von Kraftwerk sein, um zu bemerken, dass sie ähnlich wie beispielsweise Johann Sebastian Bachs manchmal etwas verkopfts Werk ein großes Erbe schon zu Lebzeiten hinterlassen. Ihre einzigartigen Klangfarben, Samples und Zitate in verschiedenster Musik der letzten Jahrzehnte sprechen für den großen Einfluss und dafür, dass ich sie ein drittes Mal erwähne.

11. Gary Numan: Airlane (Album: The Pleasure Principle, 1979)

12. Kraftwerk: Uran / Uranium (Album: Radio-Aktivität /Radio-Activity, 1975)

Was ein Klang wohl erzählt?

Bekannter ist wohl der akustisch gesehen mit „Uran“ angereicherte Song „I’m not in love“ von 10CC aus demselben Jahr. Der eher hoffnungslose Versuch zu erklären, dass wirklich keine Gefühle für die Liebende da sind. Das Foto behält der Erzähler aber, um einen kleinen Fleck zu verstecken… All das unterlegt mit einem recht gelungenen weichen elektronischen Chorsound, entweder um die unterdrückten Liebesgefühle zu zeigen oder eine Traurigkeit. Und wie lange wird sie auf ihn warten müssen?

Wir Piano Men aller Geschlechter und Niveaus sind vor lauter Spielen und Improvisieren bestens daran gewöhnt, hier und da eine Ähnlichkeit, ein Zitat und einen Stil mitzunehmen. So war wohl bei Billy Joel nichts mit Traurigkeit. Stattdessen die Sicherheit, die Richtige zu lieben. Und bitte ändere nicht deine Frisur, deine Figur, deinen Kleiderstil, deine Weltanschauung und deine Interessen, weil ich dich so mag und liebe, wie du hier und jetzt bist – darum geht’s in „Just the way you are“. Doch der Chorsound, den „Uran“ ausstrahlte und der fast steif gewordene Rhythmus von 10CC waren die Grundlage. Mag da wohl die Geliebte deprimiert und zugleich umwerfend gewesen sein, ohne ihre großartige Ausstrahlung zu bemerken?

Auch 1977 und heute erinnert man sich bei diesem Lied noch an 10CC, an Kraftwerk weniger. Vielleicht sollten sich Kollegen wie Panic! at the Disco und YouNotUs also mehr Zeit in der Produktion lassen, dann klappt’s auch mit etwas mehr als nur ein bisschen Nachahmen. Ob’s der Kritiker aber besser kann, steht auf einem anderen Blatt.

13. 10CC: I’m not in love (Album: The original soundtrack, 1975)

14. Billy Joel: Just the way you are (Album: The stranger, 1977)

Nicht verstecken, sondern würdigen – ein Fazit

Durch „Just the way you are“ kam ich mit 12 Jahren nach längerer Suche in 1995 zu meiner ersten selbstgekauften CD. Der Grund war etwas ungewohnt.

Damals und auch heute fällt es mir schwer, wenn Leute beim Musikhören mehr bewerten, ob sie etwas wiedererkennen, anstatt ob sie es mögen. Ich habe darum manchmal nicht gemocht, dass Leute merkten, wenn ich etwas Bekanntes spiele. Denn ich wollte doch einfach nur Musik machen, wie sie mir gerade einfiel. Ich fand die Musik wichtiger als die Quelle, aber ich war nicht etwa drauf bedacht, so zu tun, als hätte ich das alles erfunden. Um ehrlich zu sein, gab ich ungern meine Befürchtung zu, dass die Zuhörer höhere Erwartungen an meine Qualität haben, wenn sie etwas Bekanntes hören. Denn umgekehrt war ich selbst sehr pingelig, wie man richtig covert und interpretiert.

Ganz besonders nervte mich als Jugendlicher die Bekanntheit durch Covern von Popsongs oder das Interpretieren klassischer Musik. Das fand ich etwas für Leute, die nichts Eigenes zu sagen haben oder die mal eben schnell mit ein paar Hits glückliche Zuhörer sammeln wollen. Um mich herum wurde Musikunterricht oft genug mit Leistungsdruck verbunden, so dass Leute, die was Klassisches oder Jazziges spielten, angeblich was draufhatten, aber oh weh sie wollten rappen! Ich kann das leider nicht, sonst hätte ich nicht Bach und Keith Jarrett, sondern Debussy und Rödelheim-Hartreim-Projekt gemischt. Vom Horowitz zum Horror-Witz?

Ich komme jedoch immer mehr zur Erkenntnis: Es gibt einfach schöne Musik, auch die, die man schon zigmal gehört hat. Die teile ich gerne, so wie ich sie verstehe und fühle. Gute Werke wie Literatur, Kunst und Musik gehören nicht versteckt, sondern gewürdigt, und das nicht nur finanziell. Zu einer fairen Würdigung eines Schnipsels, einer bestimmten Klangfarbe, Spielart usw. gehört, klar zu machen: Was habe ich selbst erfunden und was von anderen Künstlern übernommen? Das kann auch mich als Recycler nur mehr würdigen, als wenn ich damit hinterm Berg halte. Und somit würdige ich, dass andere Menschen mich mit ihrer Musik und ihren Texten ermutigt haben, ihre Geschichten neu und weiter zu erzählen wie in diesem Artikel. Es ist immer noch meine Urheberschaft, aber ohne andere Urheber wäre dieses Ergebnis, ob gut oder nicht, gar nicht erst möglich gewesen. Und ohne die CD von Billy Joel hätte ich wohl nie eines meiner Lieblingslieder mit meinem ersten eignen Musikprojekt gespielt und somit einen weiteren Pianisten für den größten Piano Man aller Zeiten begeistert.

So spiele ich als Musikwissenschaftler, Musiker und Musikhörer sehr gerne Schnipseljagd, selbst wenn ich wieder nur beiläufig entdecke, wer mit wem was von wem gecovert hat, welchen Sound man von woher mit welchen Stilen übernommen hat. Der Schatz, den ich dann finde, ist viel größer und nahrhafter als ein Riesenschnitzel: eine einzigartige wortlose (Kultur-)Geschichte. Und darum gibt es diese Geschichte noch einmal ohne Unterbrechung in einer Spotify-Playlist.

Die Playlist zur Schnipseljagd

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